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Ansprache von Karl Sommer

 im ökumenischen Gottesdienst am Gedenktag der Opfer von Flucht und Vertreibung, Stiftskirche Stuttgart, 20. Juni 2015

Wenn ihr anständig gewesen wärt.......“

Ich bin Karl Sommer und zur Zeit der Vorsitzende der Ackermann-Gemeinde der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Ich bin 1940 in Troppau, der ehemaligen Landeshauptstadt von Österreich-Schlesien, geboren.

An die Vertreibung im August 1946 habe ich so gut wie keine Erinnerung. Das meiste kenne ich nur aus Erzählungen. Wir haben in Unterfranken auf Burg Rothenfels am Main in einem Massenlager eine erste Bleibe gefunden.

Ankunft

Von diesem Lager wurden die Familien nach einigen Wochen in verschiedene Dörfer im Landkreis Lohr am Main verteilt. In der ersten Zeit ist es uns dreckig gegangen. Ich selbst habe es zwar nicht so empfunden, aber meine Mutter, die sich vor allem um meine jüngere Schwester und mich sorgte. Mein Vater ist seit 1944 in Russland vermisst. Meine Mutter und ihre Schwester sind im Spessart betteln gegangen und kamen häufig erschöpft, deprimiert und erfolglos in die Unterkunft zurück.

Neben der Sorge ums Überleben gab es auch sprachliche Probleme, die meiner Mutter zuschaffen machte. Ich höre sie heute noch seufzen: „Jetzt sind wir im Reich und keiner versteht uns“. Kirchlich waren wir anfänglich nicht sehr beheimatet. Vom Pfarrer hatte meine Mutter den Vorwurf zu hören bekommen, böhmisch-katholisch zu sein, das in seinen Augen ein Makel war. Er meinte damit die angebliche laxe Frömmigkeitspraxis der Sudetendeutschen. Es war ein großes Glück, dass meine Mutter wieder in ihrem Beruf als Lehrerin Ende der 40er Jahre unterkommen konnte.

Das als Überschrift verwendete Zitat, das vollständig lautet: „....dann hätten sie Euch nicht vertrieben“, ist als Vorwurf zu verstehen, wir seien ja selbst schuld, und verdeutlicht die wenig fundierten Geschichts- und Geographiekenntnisse der hiesigen Bevölkerung. Manchmal konnte man bald nach der Ankunft aber auch das Lob hören: „Ihr habt aber schnell Deutsch gelernt“.

Persönliche Bemerkungen zur Integration

Ob eine Integration geglückt ist, hängt nicht nur von den objektiven Kriterien sondern auch von der subjektiven Betrachtungsweise ab. So spielen die Erlebnisse und deren Weitergabe an die Nachkommen, Verarbeitung und Pflege sowie der Bildungsstand und die Geisteshaltung ebenso eine Rolle wie das Verständnis der Nichtbetroffenen. Ob ich integriert bin, weiß ich nicht so recht, weil mir manchmal Zweifel kommen. Es spielen bei mir der persönliche Erfahrungshintergrund im Elternhaus und die Erlebnisse als Jugendlicher immer noch eine Rolle. Mir ist erst spät bewusst geworden wie sich die Erlebnisse der Großeltern und meiner Mutter auf die nächste Generation ausgewirkt haben.

Vor der Vertreibung in der ČSR

Über den Großeltern schwebte zeitweilig in der Tschechoslowakei das Damoklesschwert des Verlustes der sprachlichen und kulturellen Gruppenidentität. Großvater hatte für einen Dorfbewohner mit seinem Vermögen gebürgt. Um ein Haar wären Haus und Hof in tschechische Hände gefallen.

Meine Großeltern wurden vom Leiter der Volksschule gebeten, ihre Tochter ein Jahr länger in die Schule gehen zu lassen, damit die Schülerzahl nicht unter 40 sinke, denn sonst wäre die deutsche Schule geschlossen worden.

Dagegen musste meine Tante ihre Arbeitsstelle bei der Post aufgeben, weil diese von einem Tschechen mit neun Kindern besetzt wurde. Somit konnte bereits eine tschechische Schule in einem fast rein deutschen Dorf errichtet werden.

Nach der Vertreibung in Deutschland

Aufgrund der durch die Vertreibung gemachten Erfahrungen wollte meine Mutter uns Kindern eine gute Ausbildung zukommen lassen, was für mich mehrere Orts- und Schulwechsel bedeutete: Dieser häufige Ortswechsel hat bewirkt, dass ich nirgends richtig heimisch geworden bin und beginnende Freundschaften wieder auseinander gingen. Hinzu kam, dass ich immer Fahrschüler war und lange Schulwege bis zu 3 Stunden täglich hatte. Ich habe auch nicht die verschiedenen Dialekte gelernt (Fränkisch, Bayrisch, Schwäbisch), weil mir das als Assimilation vorkam. Die Gefahr des drohenden Verlustes der sprachlichen und kulturellen Gruppenidentität in der Tschechoslowakei hat sich so bis auf die 2. Generation ausgewirkt.

Verständnislos wird gelegentlich reagiert, wenn ich von Einheimischen auf mein Engagement in der AG angesprochen werde: „Was, ihr befasst euch immer noch mit dieser Problematik? Das ist doch alles schon erledigt! Ihr seid doch längst integriert“. Das deutet auf wenig Verständnis hin und zeigt geringe Geschichtskenntnisse. Ich merke dann, dass ich hier immer noch nicht richtig angekommen bin und dass der persönliche Erfahrungshintergrund wieder präsent wird. Es ist nämlich vieles noch nicht erledigt!

Im Rückblick kann ich dankbar anerkennen, dass ich ohne die vielen Gönner und Förderer nicht zu dem geworden wäre, der ich heute bin. Natürlich haben auch die Zeitumstände dazu beigetragen.

Ich wünsche mir, dass die Friedensarbeit der Ackermann-Gemeinde auch zukünftig weiter geführt und mit Empathie begleitet wird. Hierzu nenne ich vor allem:

·      Gespräche über die gemeinsame und doch oft trennende Geschichte führen

·      Jugendlichen das gegenseitige Kennenlernen ermöglichen und

·      sich mit der Kultur des Nachbarlandes auseinandersetzen

Denn es gibt noch viel zu tun.